Dieter Henrich: Gesamtkunstwerk und Partialkunstwerk 

I.

Die Überlegungen, die im Folgenden vorgetragen werden, eröffneten zwar ein Symposion über Richard Wagners ‘Ring’. Sie sind aber allenfalls wegen ihres Bezugs auf Grundfragen der Kunsttheorie als ein Grundsatzreferat zu diesem Thema zu verstehen. Denn sie betreffen Richard Wagner nicht an allererster Stelle. Vielmehr sind sie um die Frage konzentriert, wie die Künste in der Gegenwart zu situieren sind, womit immer zugleich auch die Wandlungen der Stellung der Künste in der Geschichte der Moderne und die Verständigung über den Sitz der Kunst im Leben in Frage stehen.

Dennoch wird von Beginn an und durchgängig auf Wagners Werk eingegangen. Denn dessen Stellung in der Geschichte der Moderne zu klären, ist eben auch der Anlaß für alle Überlegungen. Diese Klärungsaufgabe ist ebenso schwierig wie für die Beziehung zu Wagners Werk bis hin zu einer Orientierung über die Möglichkeiten einer gegenwärtigen Aufführungspraxis von keinesfalls marginaler Bedeutung. Die Kontroversen über dies Werk, die sich in unveränderter Intensität immer weiter fortsetzen, erklären sich nämlich zu einem Teil daraus, daß es so große Probleme macht, über Wagners Werk im Rahmen einer Diagnostik der Moderne und deren Beziehung zur Kunstproduktion zur Klarheit zu kommen, während doch gerade dies Werk das Bedürfnis nach solcher Klarheit so drängend fühlbar macht wie kaum ein anderes.

Eine Verständigung, die ein so grundlegendes kunsttheoretisches Thema im Rahmen eines Vortrags aufnimmt, bedürfte eigentlich einer einleitenden Vororientierung. Da aber Wagners Konzeption einer Gesamtkunstwerks von sich aus zur Aufnahme von Grundfragen der Kunsttheorie und der Diagnose dessen drängt, was die Moderne ausmacht, sollte es möglich sein, im gleichen Schritt mit der Analyse dieser Konzeption auch diese Grundfragen aufzunehmen und zu vertiefen. So also wird im Folgenden verfahren werden.

Noch ehe ich an den Titel anschließe, der den Wagner ganz eigenen Terminus Gesamtkunstwerk mit einem ihm ganz fremden, aber seinem Terminus entgegengesetzten Ausdruck zusammenführt, kann ich bereits eine Gemeinsamkeit mit Wagner eigens hervorheben, die im Folgenden modifiziert, aber nicht aufgehoben werden wird. Sie steht im Zusammenhang mit der Bedeutung, die Wagner innerhalb seiner Konzeption vom Gesamtkunstwerk dem Drama gegeben hat, und die er ihm, wie sich noch zeigen wird, sogar geben mußte.

Drama ist der Ausdruck, mit dem auch das Zentrum dessen bezeichnet wird, um das sich das Gesamtkunstwerk ausbilden soll. Diesen seinen Terminus hat Wagner aber seinerseits zurückgebunden an zwei Momente, die seine Bedeutung konstituieren: an die Selbstmitteilung des Menschen "in der höchsten Fülle seines Wesens" und an die Bühne als die Mitte eines Festspiels, in dem sich das Volk selbst begreift und vereinigt. Beide Momente sollen zunächst in ihrem Zusammenhang erklärt werden.

So vertraut uns die Formel von der Selbstmitteilung des Menschen auch sein mag, so versteht sie sich als Wesensbestimmung der Kunst doch gewiß nicht von selbst. In der Musiktheorie konkurrieren über das ganze, kaum übersehbare Spektrum von Theorieansätzen hinweg, von früh an zwei Grundkonzepte miteinander: Die Musik von den Affekten des Menschen her oder von der mathematischen Ordnung her zu verstehen, die dem Universum eignet und die insofern alles Menschliche übersteigt. Damit sind also einerseits Selbstverwirklichung und andererseits Selbsttranszendenz als die Möglichkeiten verstanden, die dem Menschen im musikalischen Kunstwerk erschlossen werden. Doch das ist nicht notwenig ein Gegensatz, dessen Glieder sich ausschließen. Gewiß ist er es für Wagner nicht gewesen. Denn zum Wesen des Menschen gehört es, sich in ein größeres Ganzes einbegriffen zu wissen, und aus diesem Verstehen zu dem zu gelangen, was Wagner immer als "Erlösung" verstand – ob in der feuerbachschen "Natur" oder dem amorphen Unwillen oder dem, was er in "Religion und Kunst" den "Kern" der christlichen Religion nennt, das "Unaussprechbare" nämlich, das von der "Not des Willens" durch seine Erscheinung in der Erlösergestalt befreit.

Für moderne Kunst ist dies aber eine Minimalbedingung: Zu jener Ordnung (man mag auch vom "Absoluten" oder wagnerisch vom "unaussprechlich überweltlichen Befreienden" reden) kann nur im Ausgang von der Lebensbewegung des Menschen her ein Zugang gefunden werden. Diese Bewegung ist somit das erste Thema der Kunst, insofern die Kunst den Menschen im Zentrum seines Lebens erreicht und verwandelt. Daß in einem damit, daß sie unverstellt aufgeschlossen wird, ein Ursprünglicheres sich erschließt, ist insofern ein zweites, als es keinen Weg gibt, der im direkten Ausgang von diesem Grundlegenden her über das Menschenleben verständigen könnte. Denn zu ihm gibt es keinen Zugang, wenn er nicht von diesem Leben als solchem auch schon seinen Ausgang genommen hätte.

Wir können dasselbe ganz abgehoben von Wagner und in der eigenen philosophischen Sprache so zum Ausdruck bringen: Die in der Subjektivität des Menschen begründete Dynamik ist der erste Gegenstand der Kunstproduktion. Sie ist damit ebenso die Voraussetzung dafür, daß sich dem Menschen – sei es in seinem Leben selbst, sei es über die Erfahrung des Kunstwerks – dann auch ein Grund dieses seines Lebens erschließt, der durchaus nicht in ihm selbst gelegen ist. Darin, so denke ich, dürfen und müssen wir mit Wagner gemeinsame Sache machen.

Ihm hatte sich dieser Zusammenhang aus der Erfahrung von Beethovens Symphonien erschlossen. Deren Leistung läßt sich wirklich auch so verstehen, daß die vollkommenste Beherrschung der Entwicklung in einer musikalischen Form mit der Vergegenwärtigung von Bewegungen zusammengeführt werden, die in der Subjektivität des Menschen begründet sind, die dann aber zugleich auch über sie hinausführen, und zwar fugenlos und also in ebenderselben vollkommenen Weise, so daß sie die kraftvollste Entfaltung des Selbstseins mit dem Bewußtsein einer in sich begründeten letzten Ordnung in die Einheit eines einzigen Erfahrungsverlaufs integrieren.

Ist dies der Gehalt, der dem Formverlauf des Kunstwerks in seiner höchsten Realisierung zuzuordnen ist, dann versteht man, daß Wagner zu seiner Bezeichnung den alten Gattungsnamen Drama einsetzt – Drama in der Wortbedeutung von Verlauf durch Gegensätze und den Konflikt zwischen ihnen bis hin zu ihrer Auflösung oder zu einem letzten Resümee über sie.

Man versteht sogar mehr noch, daß im selben Sinne von Musik-Drama die Rede sein kann. Seit Carl Dahlhaus‘ Untersuchungen ist wohl klar geworden, daß damit nicht ein szenischer Handlungsverlauf gemeint ist, der dann in der Musik nur aufgenommen wird und der von ihr her eine vertiefte Entfaltung findet. Gemeint ist vielmehr ein Verlauf, der sich über Gefühlslagen und deren Verwicklung aufbaut. Sie gehen als Motivationen in die sichtbare Handlung der Personen auf der Bühne ein, so daß also das Drama (der Verlauf) innerhalb der Musik dem dramatischen Vorgang auf der Bühne vorausgeht. Zugleich ist das Drama nichts nur Musikalisches, sondern ein Verlauf, mit dem der musikalische Formverlauf seinem Wesen nach konvergiert – der also in ihm seinen eigentlich adäquaten Ausdruck findet, der es aber auch ist, kraft dessen die musikalische Form selbst zu ihrer reichsten Ausbildung und Entfaltung gelangt.

Sagt man nur so viel, dann muß man zu der Folgerung kommen, daß das Musikdrama die ihm am meisten gemäße Verwirklichung allein in der rein musikalischen Gestalt der Symphonie findet. Doch dagegen stehen in Wagners Verständnis vor Musikdrama gleich mehrere Gründe. Einer von ihnen führt geradewegs zu der Rede vom Gesamtkunstwerk. Und er macht dann das zweite Moment aus, das Wagner zu seiner Auszeichnung des Dramas als Mitte und Vollendung der Kunstpraxis bewogen hat.

Zum Drama gehört, in ganz anderem Maße als zur Symphonie, das Geschehen auf der Bühne. Insofern ist das Drama für Wagner Ausdruck dessen, daß das "Kunstbedürfnis, als ein wahres (also wesentlich menschliches) Bedürfnis", "in der Gemeinschaft allein" zu befriedigen ist. Der Künstler muß wollen, "sich selbst in der Höchsten Fülle seines Wesens (und also) in der vollsten Gemeinschaft mitzuteilen." Wagner läßt sich also von dem Gedanken, in der Kunst müsse das Wesen des Menschen zum Ausdruck kommen, ohne von zufälligen, nur einzelnen Individuen eigenen Zügen verstellt zu sein, unmittelbar zu dem ganz anderen Gedanken führen, dies gemeinsame Wesen des Menschen müsse auch in der vollkommenen Gemeinsamkeit der Menschen untereinander zum Ausdruck gebracht werden.

Daraus ergibt sich die Konzeption des Bühnen-festspiels. Und so hat er den Ring des Nibelungen zuerst selbst bezeichnet. In seinem Vollzug treten in die "vollkommenste Gemeinsamkeit" diese beiden: das Volk, dessen Fest die Spiele sind, aus dem die Kunst selbst hervorgeht und das sich des eigenen gemeinsamen Menschenwesens in der Erfahrung des Spieles bewußt wird, und die Künste, die gemeinsam in der jeweils geforderten Weise ihrem Verlangen nach Mitteilung des von allem Zufälligen und Beiläufigen gereinigten wahren Wesens des Menschen im Drama die Verwirklichung zuteil werden lassen. Die Musik hat aber unter den Künsten insofern einen Vorrang, als sie es ist, die in der langen historischen Phase ihrer Einsamkeit, also ihrer Ausbildung ‘bei Hofe’ und damit ihrer Entfernung vom Fest der Menschen, die Fähigkeit zur Darstellung der menschlichen Gefühle in der höchsten Fülle und in unbegrenzter Ausbreitung gewonnen hat.

Der Terminus Gesamtkunstwerk tritt im Zusammenhang der Entfaltung dieses Gedankenganges zum ersten Mal auf. Im Interesse der nun folgenden Überlegungen zu Wagners Positionierung in der Geschichte unserer Zeit wollen wir vorerst ausdrücklich festhalten, daß zwei Komponenten in ihn eingehen, die auch beide von Wagners doppeldeutiger Rede von der Gemeinsamkeit in der Kunstausübung abgedeckt sein sollen: (1) Die vollkommenste Mitteilung dessen, was das Menschenleben ausmacht, und weiter auch dessen, was es begründet und worin es sich vollendet, und (2) die Gemeinsamkeit derer, die im Bühnenfestspiel, gleich ob als ausführende Künstler oder als Teilnehmer im Mitvollzug, zu dieser Mitteilung zusammenwirken und die darin zugleich das erfahren, was im Drama dieses Spieles vergegenwärtigt wird.

Auf jede dieser beiden Komponenten ist nun jeweils näher einzugehen. Sie gehören in jeweils anderer Weisegleichermaßen in den Gesamtkontext der modernen Bemühung um eine Verwandlung der Kunstpraxis und um eine Vertiefung der Verständigung über sie. Zugleich sind mit ihnen auch die Züge markiert, durch die Wagners Werk in der sich entfaltenden Moderne in eine ambivalente Stellung gekommen ist – eine Ambivalenz, die auch in dem wirklichen Aufbau des Werkes selbst Folgen gezeitigt hat.

Das gilt mehr noch für die erste als für die zweite dieser beiden Komponenten – für die Weise also, in der das Menschenleben in reiner Gestalt vom Kunstwerk vergegenwärtigt sein soll, mehr noch als für das Konzept des Bühnenfestspiels. Aber auf beide läßt sich der Ausdruck ‚Gesamtkunstwerk‘ mit gutem Sinn beziehen, den Wagner selbst aus dem dargelegten Grund nur mit Beziehung auf das Bühnenfestspiel in seiner vollen Bedeutung gebraucht hat. Auf diese zweite Komponente soll darum auch zunächst eingegangen werden. Der anderen Komponente, welche die Kunst auf die Vergegenwärtigung des Menschenlebens verpflichtet, wird dann aber in der Folge das größere Gewicht zuzumessen sein.

Mit der Freisetzung der Subjekte aus den Systemen der gesellschaftlichen Schichtung in Klassen und aus den Ordnungen des Lebens und des Verstehens vom Leben, die ihnen innerhalb dieser Systeme zugewiesen waren, wurde in diesem ihrem Leben auch das Prinzip der Spontaneität in Wirkung gesetzt. Aus ihnen selbst heraus soll sich das Leben und jegliches Verstehen der freigesetzten Subjekte ausbilden. Eben deshalb sollte auch die politische Ordnung ihrem vereinigten Willen nunmehr entspringen. Dann aber liegt es nahe, auch das Bewußtsein von dieser Einigkeit und Vereinigung in einem Akt gemeinsamer Erfahrung und gemeinsam geübter Spontaneität zu vertiefen und so immer wieder zu erneuern. Rousseau hatte in diesem Sinne die Zivilreligion des Staates und zusammen mit ihr das republikanische Fest postuliert. In der französischen Revolution war schon verwirklicht worden, was er damit vorgedacht hatte. Ein Künstler ersten Ranges, der Maler David, war der bedeutendste Organisator solcher Feste. Er hat in ihnen, die so offenbar über sein eigenes Metier hinausgriffen, sogar die höhere, die eigentliche Verwirklichung seines Künstlerberufes gesehen. In dieser Praxis des Neuen Festes war aber immer auch die Erinnerung an die Staatsfeste der Griechen gegenwärtig – an den Festzug der Panathenaeen, der seinerseits an den Zug des Weingottes erinnern konnte, in dem die Kunstform der Tragödie ihren Ursprung hatte und in dem sie ihren Einzug in Athen vollzog. Daß die griecheische Tragödie eine solche Festveranstaltung gewesen ist, die damit in einem Kontext stand, der im selben Maß politisch wie religiös zu begreifen war, - das war den Initiatoren der Revolutionsfeste ebenso geläufig, wie es auch Richard Wagner vor Augen stand. Diese Tradition des Festes, das wesentlich auch Kunstfest sein sollte, war auch in der Folge der Vereinigungsfeste weiterhin wirkam gewesen, von denen selbst im Deutschland der Metternichzeit politische Sprengkraft ausgegangen war. Das Wartburgfest und das Hambacher Fest, die auch heute erinnert werden, sind die wichtigsten unter ihnen. Noch in Karl Marx‘ Beschreibung von Vollzug und Wirkung der proletarischen Revolution, die aus der ‚Vereinigung‘ der Proletarier aller Länder hervorgehen sollte, lassen sich Züge dieser Tradition ausmachen. Man hat im übrigen nachweisen können, daß in den musikalischen Gestus von Beethovens Musik, nämlich in die Rapidität ihrer Verlaufsform, durchaus, wenn auch nur am Rande, Eindrücke eingegangen sind, die sich von seiner Kenntnis der französischen Revolutionsmusik herleiten.

Wagner steht und weiß sich in dieser Traditionslinie. Er hat nur, nach dem Ende seiner eigenen Lebensphase als Revolutionär, den explizit politischen Bedeutungszusammenhang zur impliziten, sozusagen rezessiven Bedeutungskomponente zurückgenommen und die Nachfolgerin der griechischen Tragödie, vereinigt mit Beethovens Symbolik, im ganzen Ernst zum alleinigen Zentrum des Festes gemacht. In ihm sind Kunst und Leben zusammengeführt. Und eben dadurch ist der Kunstsinn verwandelt, ohne Preisgabe von Wagners Medium, dem musikalischen Bühnenwerk, zwar – so wie sie David im Übergang von der Malerei zum Gesamtkunstwerk des Festes vollzogen hatte – , aber doch durch eine vollständige Verwandlung seiner Funktion. Werk und Fest dienen nicht mehr der Unterhaltung und der Selbstdarstellung einer Klasse, sondern der Vergegenwärtigung des Menschenwesens – in einer als spontan zumindest intendierten Vereinigung der Künste und der Menschen, die einmal das ‚Publikum‘ waren, zum Gesamtkunstwerk.

Wagner ist gewiß nicht der letzte in dieser Traditionslinie moderner Verständigung über Kunst gewesen, die von Rousseau und dem republikanischen Fest ihren Ausgang nahm. In der weiteren Entfaltung der Moderne sind Vereinigungsprogramme von Kunst und Leben in vielfach verwandelter Gestalt immer wieder neu hervorgetreten. Sie waren auch nicht durchaus dazu verurteilt, die Moderne sich schließlich explizit gegen sich selbst wenden lassen zu müssen. Das geschah im Übergang des Tessenowschülers und Architekten Albert Speer, der auch über einen Medienwechsel zum Regisseur von Parteifesten und zum Inszenator von megalomanen Hauptstadtachsen geworden ist. Auch die unverformte Moderne hat immer wieder Vereinigungen von Kunst und Leben über die Umdeutung von Medien und über Medienwechsel zu erreichen versucht. Der Kunstkritiker Carl Einstein hat so den Kubismus schon zu der Zeit verstehen wollen, als er sich noch durchzusetzen hatte. Das Bauhaus und der Surrealismus sind einander entgegengesetzte, in diesem Punkt aber miteinander konvergierende Kunstprogramme gewesen. Die Schöpfer der mexikanischen Wandmalerei wollten mit ganz anderen Mitteln im selben Sinne wirken. Und Joseph Beuys hat mit seiner These von der allgemeinen Künstlerschaft aller Menschen wesentlichen Zügen entsprochen, die in das Konzept vom Gesamtkunstwerk eingingen, und sie durch den aktiven Part dessen, was Wagner ‚das Volk‘ nannte, sogar noch überboten, womit er vielem in der Kunstproduktion der letzten Jahrzehnte vorgearbeitet hat. Unschwer läßt sich, um dies nebenbei zu bemerken, auch voraussehen, daß die Computertechnik einmal vergleichbare Utopien hervortreiben wird, und zwar aufgrund der Interaktivität, also der aktiven Teilnahme aller, die sie bei den durch sie ermöglichten Produktionen zuläßt,.

In alle dem ist das Fest veralltäglicht, das Spiel von der Bühne wegverlagert, die religiöse Dimension der Selbstverständigung gestrichen worden. Von einer Fortschreibung der Motive, die zur Konzeption des Gesamtkunstwerks führten, kann und muß dennoch gesprochen werden. Die Motivationen, die in diese Konzeption eingehen, sind offensichtlich mit den Formationsbedingungen der Moderne selbst aufgekommen. Sie betreffen die Spontaneität, die sich über sich selbst verständigen und so ihrer selbst vergewissert werden soll, und sie schließen auf zunächst einmal einleuchtend scheinende Weise ein, daß dies in der freien Vereinigung von auf solche Selbstverständigung gestimmten und ihrer bedürftigen Menschen gewonnen werden soll.

In ihrer Verwirklichung sind aber alle diese Konzepte sogleich auch zumindest insoweit zum Erliegen gekommen, als sie auf irgendeine Dauer gestelltwerden sollten. Mit dem Revolutionskalender war nach einem guten Jahrzehnt auch in Frankreich der Festkalender der Revolution aufgehoben. Bayreuth freilich besteht weiter. Vom Fest ist die Höhenlage eines Anspruchs geblieben, der sich aber nur noch ganz vage definieren kann. So konkurriert dies Festspiel inzwischen mit anderen Festivals auf derselben Ebene. In ihnen allen ist das Volk längst wieder zum Publikum geworden. In welchem Sinne von einer Selbstverständigung im Ganzen des Lebens noch die Rede sein könnte, steht gänzlich in Frage. Die Spontaneität des Volkes in seinem für die Vollzug die Realisierung des Gesamtkunstwerks essentiellen Mitwirken ist in Wahrheit aber wohl schon von Wagners eigenem Bayreuther Beginn an ausgeblendet gewesen.

Aber auch die Aktionen von Joseph Beuys, wie etwa das Pflanzen der 7000 Eichen, sind nicht wieder aufgenommen worden. Statt dessen haben sie einen Platz in der Literatur zur Kunstgeschichte der Moderne erhalten, und ihre Rudimente einen Platz in den Museen, der ganz quer steht zu den Intentionen, aus denen sie hervorgegangen sind. Die mexikanische Revolution ist zum Namen einer in ihrem Machtbesitz etablierten Partei zurückgenommen. Die Sportarena ist zum römischen Collosseum eines von jeder Beziehung auf die Vergegenwärtigung des Menschenwesens abgelösten Leistungs-, Erregungs- und Identifikationsspiels geworden.

Wenn nun aber ein Kunstprogramm unter dem Leitwort Gesmtkunstwerk so offensichtlich aus für die Moderne charakeristischen Motiven hervorgeht und wenn es in deren Prozeß dann dennoch immer wieder um das ihm durchaus Wesentliche amputiert wird, dann muß das wohl selbst auch wiederum einen Grund in den Formationsbedingungen der Moderne haben – einen Grund, der in den vielen Variationen dieses Kunstprogramms immer wieder außer Acht gelassen worden ist. Die Frage danach, welches dieser Grund sei, führt nunmehr zu der anderen, der wichtigsten Komponente in Wagners Bestimmung dessen, was das Gesamtkunstwerk ausmacht.

II.

Dabei läßt sich der Punkt auch ohne große Mühe ausmachen, der Kunstprogramme in Schwierigkeiten bringt, wenn sie als Gesamtkunstwerk in einer Art von Fest das Menschenwesen sich selbst vergegenwärtigen wollen. Denn die Spontaneität, zu der das Leben in der Moderne aus den ihm vorgebildeten Ordnungen befreit worden ist, darf nicht mit Unmittelbarkeit in den in ihm aufkommenden und in ihm begründeten Lebensorientierungen und Handlungsweisen verwechselt werden. Das freigesetzte Leben ist zwar wohl sich selbst überantwortet. Damit ist es jedoch auch in eine erhöhte Bewußtheit seiner selbst eingesetzt. Solche Bewußtheit ist aber immer gleichbedeutend mit einer Distanz zu sich selbst. In die moderne Spontaneität ist darum immer auch eine Selbstdistanz eingebildet. Diese beiden Grundzüge, die einundderselben Grundtatsache zugehören, die sie sogar ausmachen, müssen immer in ein bestimmtes Verhältnis zueinander gebracht werden – wofür es ein Spektrum unausschöpfbar vieler Möglichkeiten gibt. Insgesamt darf man aber mutmaßen und auch bilanzieren, daß im Prozeß der Entfaltung der Moderne die Bedeutung der Selbstdistanz angewachsen ist.

Ein solcher Prozeß zieht notwendig Versuche nach sich, entweder die Spontaneität in Unmitelbarkeit zu bewahren oder ihr eine Unmittelbarkeit zurückzugewinnen oder aber eine Spontaneität wirklich werden zu lassen, die in der Selbstdistanz, und zwar auch noch in einer ihrer gesteigerten Gestalten, fortzubestehen vermag. Alle Konzeptionen eines Gesamtkunstwerks haben jedoch dies miteinander gemein, daß sie den Nachdruck auf die Rettung der Unmittelbarkeit und der damit verbundenen Einheit und Vereinigung im wirklichen Lebensvollzug legen, während sie die Aufgabe der Bewahrung der Selbstdistanz innerhalb der Spontaneität wegdrängen oder ihr gar keine Bedeutung beilegen..

Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Philosoph Hegel mit den Hoffnungen einiger seiner prominenten Zeitgenossen vertraut, die auf ein Gesamtkunstwerk der Zukunft ausgerichtet waren. Er versuchte zu erklären, warum sich diese Hoffnungen nicht erfüllen würden, wußte dafür unter anderen zwei Gründe zu nennen: (1) Die moderne Reflektiertheit erlaubt es nicht, in der Erfahrung eines Kunstwerks eine letzte Befriedigung des Lebens oder eine von aller Fremdheit entschränkte Gemeinsamkeit zu finden. (2) Kunstwerke sind nicht imstande, Vergegenwärtigung des Weltzusammenhanges und der Ursprünge seines Hervorganges zu erreichen, die dem Verstehen des Universums der Lebensverhältnisse gemäß ist, welches in der Moderne erreicht wurde.

Hegel folgerte daraus, dass sich die Kunstproduktion in einen ihr selbst vorgegebenen größeren Zusammenhang des Lebens und vor allem des Verstehens einordnen müsse. Die Vergegenwärtigung und ebenso die Versöhnung des Lebens mit sich könne, insofern sie über die Kunsterfahrung gewonnen wird, immer nur partial sein. Partial ist sie also, insofern sie ermöglicht und durchherrscht ist von einem Verstehen, das nicht aus der Kunsterfahrung selbst heraus zu gewinnen ist und in dessen größeren Rahmen jegliches einbegriffen ist, was immer die Kunstproduktion zum Bewußtsein bringen kann. Partial ist sie also nicht etwa in dem Sinne, daß sie nur in gewissem Maße und eingeschränktem Grade überzeugt und befriedigt. Partial zu sein heißt für ein Kunstwerk auch nicht, daß es Fragment oder von kleinem Format oder kleiner Dauer ist. Kafkas Romane und Picassos Guernica können im selben Sinne Partialkunstwerke sein wie Klees Zeichnungen oder eine Etude von Debussy.

Damit ist nun eine erste Begriffsbestimmung dessen erreicht, was im Titel dieses Vortrags und in Kontraposition zu Wagners Gesamtkunstwerk mit der Formulierung Partialkunstwerk angezeigt worden ist. Der Terminus selbst findet sich nicht bei Hegel. So wollen wir uns die weitere Orientierung auch nicht von Hegel vorgeben lassen. Wir wollen den Gegensatz, der nunmehr aufgestellt ist, um weitere Züge – sowohl in Wagners Konzeption wie in der Entwicklung der Kunstproduktion in der Moderne – anreichern, und zwar auf Wegen, die von Hegel nicht vorgebildet worden sind.

III.

In Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks wurden zwei Komponenten voneinanderunterschieden. Die eine war von dem, was als Gesamtkunstwerk eigentlich intendiert war, als eine für es konstitutive Bedingung schon vorausgesetzt. Aber auch auf sie kann, wie gesagt, der Ausdruck Gesamtkunstwerk sinngerecht bezogen werden. Diese Komponente haben wir erreicht im Anschluß an die Klärung der Schlüsselbedeutung des Dramas für das Gesamtkunstwerk und die weitere Klärung der zentralen Bedeutung, welche die Musik für es hat. Das Drama ist das Medium, in dem auf die vollkommenste Weise das mitgeteilt wird, was das Menschenleben ausmacht, was es begründet und worin es sich vollendet. Wir haben nun zu fragen, inwiefern dies sich so verhält, um daraus weiteren Aufschluß über die Positionierung von Wagners Kunstprogramm und seiner Kunst in der Geschichte der sich entfaltenden Moderne zu gewinnen.

Die Kunstgattung des Dramas läßt sich selbst wieder in zwei Hinsichten artikulieren. Für jegliches Drama ist es charakteristisch, daß es Personen darstellt als in einen Entwicklungsgang hineingezogen. In der Regel sind es die anderen Personen, mit denen sie interagieren und in Konflikte kommen, sowie die Umstände, die sich daraus ergeben, welche zusammengenommen die Handlung ausmachen und welche das Geschick der Personen in den Verwicklungen ihres Handelns bestimmen. Die Charaktere der Personen sind dabei für die Entwicklung von maßgebender Bedeutung, so daß sich von ihnen her die Spielräume der möglichen Entwicklung und zugleich auch deren Zwangsläufigkeit verstehen lassen.

Nun kann man diese Grundordnung des Dramas aber in zwei unterschiedlichen Hinsichten akzentuieren: Entweder in Beziehung auf die Entwicklung der Handlung oder in Beziehung auf die Entwicklung der Personen, die in diesen Handlungszusammenhang verwickelt sind. Bei der ersten Akzentuierung sind die Charaktere als Konstanten angesetzt. Infolge der zweiten werden sie selbst in einen Entwicklungsgang versetzt, welche die eigentliche Bewegung (und damit das eigentliche Drama) ausmacht. Die Erfahrungen, die sie in den Verwicklungen ihres Handelns machen, verwandeln sie und führen sie zu einem Stand von Begreifen und Sich-selbst-Verstehen, der nur als das Ergebnis der Verwicklungen möglich geworden ist, in die sie gerieten und denen sie dann auch erliegen mögen. König Ödipus und Maria Stuart mögen als Beispiele dieser Akzentuierung von Dramatik erwähnt sein.

Sieht man nun die höchste Gestalt des dramatischen Kunstwerks in der Nachfolge der Symphonie, zumal der von Beethoven, so könnte man wohl erwarten, daß in einem solchen Drama diese zweite Weise der Akzentuierung vorherrschen werde. Denn die Symphonie mag wohl vielfältig mit in Interaktion vollzogenen dramatischen Geschehnissen assoziierbar und gelegentlich auch darauf angelegt sein. Als Komposition entfalten und verwandeln sich in ihr kontrapointierte Themen über Konflikte auf eine Vertiefung und in eine Integration hin, die – wenn sie denn nicht rein nur als Formverlauf zu würdigen sind – doch einzig mit der Erfahrungs- und Verstehensgeschichte jeweils einer Person, man kann sagen mit dem ‘Drama’ ihres Lebensganges, in einen Zusammenhang gebracht werden können. Für alle, also für ‘das Auditoriuum’, erschließt sich in solchen Kompositionen insofern etwas von Bedeutung, als von ihnen eine Bewegtheit und Verlaufsform, die grundsätzlich jedem Leben eigen sein könnte und die in ihm zumeist doch verdeckt und verstellt ist, in reiner Gestalt vergegenwärtigt wird.

Bedenkt man dies, dann wird man es auffällig finden, daß Wagner in seiner Konzeption des Gesamtkunstwerks diesen Bezug auf die Bewegung des je eigenen Lebens keineswegs heraushebt, sondern daß er ihm allenfalls eine untergeordnete Bedeutung zukommen läßt. Wie es dazu kommt, versteht man aber doch auch, wenn man seinem Gedankengang folgt, über den er das Drama mit dem größeren Konzept des Gesamtkunstwerks verbindet. In der gemeinsamen Erfahrung des Dramas können die Menschen in der "vollsten Gemeinsamkeit" über sich selbst verständigt werden. Das geschieht, indem sich auf der Bühne das Zusammenspiel und der Konflikt der Personen entfaltet. Jeder der Schauspieler hatte den Charakter oder die Person, die er verkörpert, nicht als sein eigenes individuelles Wesen, sondern als eine Möglichkeit menschlichen Wesens überhaupt rein herauszugestalten. Eine Voraussetzung dafür ist es, daß man ihre Besonderheit, ‘in der Berührung, Durchdringung, Ergänzung mit anderen Individualitäten‘ versteht und sich ausprägen läßt. So wird dem Volk im interaktiven Geschehen auf der Bühne die ganze Potentialität im Wesen des Menschen vergegenwärtigt.

Von daher begreift man nun auf noch andere Weise die ausgezeichnete Rolle, die Wagner der Musik in der Ausbildung des so verstandenen Dramas zuweist. Denn die Handlungen der Charaktere gehen aus der besonderen Organisation seiner Gefühle hervor. In der Interaktion der Charaktere werden also die dem Menschen eigenen Möglichkeiten des Fühlens in ihrer Vielgestaltigkeit ‚rein‘ zum Ausdruck kommen. Sie zu vergegenwärtigen vermag aber die Musik in einer jeder anderen Kunstform überlegenen Art. "Das Orchester ist, so zu sagen, der Boden unendlichen, allgemeinsamen Gefühles, aus dem das individuelle Gefühl des einzelnen Darstellers zur höchsten Fülle herauszuwachsen vermag." Der starre Boden der Szene des Dramas löst sich so "in eine flüssigweiche nachgiebige, eindrucksempfängliche ätherische Fläche auf, deren ungemessener Grund das Meer des Gefühls selbst ist" Obwohl diese Passagen in Wagners Text über das Kunstwerk der Zukunft, auf Beethoven gemünzt, schon 1849 geschrieben wurden, und zwar in großer zeitlicher Nähe zu Wagners erster Aufführung von Beethovens Neunter Symphonie, sind sie doch weit weniger geeignet, auf Beethoven bezogen zu werden als auf die Komposition vor allem des Tristan, aber auch des Rings, für die sie nahezu als ein Programmtext gelten könnten.

Die "flüssigweiche, nachgiebige, eindrucksempfängliche ätherische Fläche" – das ist eine Formulierung, die dem sehr nahe kommt, was Dahlhaus als die Grundtatsache der wagnerischen Kompositionstechnik herausgearbeitet hat, die musiktheoretisch und historisch zu begreifen, wie er meint, man Wagner immer noch schuldig geblieben sei. Die "Kunst des Übergangs", divergierende Motive ohne merklichen Bruch aneinanderzufügen, als gingen sie zwingend auseinander hervor, die ‚Substantialität‘ und ‚Beredtheit‘ der Motive und Tonfolgen, die ein ‚Gewebe‘ ausmachen – im Unterschied zu der kompositorischen Architektur Beethovens. All dem läßt sich mühelos die Metapher vom "Meer des Gefühls" zuordnen, aus dem sich auf der theatralichen Szene des Dramas die einzelnen Charaktere abheben. In ihrem Widerspiel, das die Musik einfängt und umgreift, werden sie als Teil des dem Menschen Wesentlichen und der ihm wesentlichen Vielfalt vergegenwärtigt. Hieran schließen sich naturgemäß die Fragen der musikalischen Analyse an, unter anderem die Frage, inwieweit Wagners Musik dieses Gewebe in neuer kompositorischer Kunstfertigkeit erglänzen läßt und inwieweit er es doch als Medium einer dramaturgischen Regie gebrauchte, die Nietzsche als Rhetorik diffamiert hat.

Statt solcher Fragen, die der Kompetenz der musikologischen Fachleute überlassen bleiben sollen, ist hier der Faden wieder aufzunehmen, der uns dahin geführt hatte, dem Verhältnis von Spontaneität und Distanz nachdenken zu müssen – und zwar mit Beziehung auf die Geschichte der Entfaltung der Moderne und auf Wagners Positionierung in ihr.

"Das Meer der Gefühle", denen das "Gewebe" der Motive und Tonfolgen sei es nachgeht, sei es entspricht – ein solches Programm scheint gar nichts anderes als ein weiterer Versuch zur Etablierung von Unmittelbarkeit sein zu können. Das Gefühl gilt seit jeher als die Weise von Erfahrung, in der die Selbstdistanz nicht eingebracht werden kann. Man mag zu den Gefühlen eine Distanz halten, kann aber nicht in ihnen in einer Distanz zu sich kommen. Wenn nun also das allbefassende Gefühlsmeer der letzte Gehalt des Dramas ist, aus dem die Akteure auf der Bühne auftauchen, aber auch ihre Handlungsenergie ziehen, dann scheint dies auf die Preisgabe aller Selbstdistanz gerade dort zielen zu müssen, wo zugleich doch das der Menschheit als solcher Wesentliche vergegenwärtigt werden soll. Diesem Befund entspräche dann der andere Befund, der sich bei der Klärung dessen ergeben hat, worin der Festcharakter des Bühnenfestspiels sich realisiert: In der spontanen Vereinigung der Menschen zur Vergegenwärtigung ihres gemeinschaftlichen Wesens. So wären beide Komponenten, auf die sich der Ausdruck Gesamtkunstwerk beziehen kann, mit einem Programm des Gewinns von Spontaneität besetzt, das die Selbstdistanz, welche in der Spontaneität zu wahren ist, ignoriert oder sogar geradezu auf ihre Eliminierung ausgeht. Diese Selbstdistanz darf übrigens nicht durch die Unfähigkeit, sich ergreifen zu lassen, definiert werden. Die dem Menschen wesentliche Ergriffenheit ist nicht Verlust aller Selbstdistanz. Sie setzt diese Distanz sogar voraus, bringt sie dann aber in den größeren Zusammenhang eines Geschehens ein, von dem man sich nicht weiter noch distanzieren kann und darf.

Das Bild von Wagner, das sich so ergibt und demzufolge er darauf ausgeht, aus der Selbstdistanz wegzuverführen, ist nicht in schlechthin jeder Hinsicht irreführend. Man hat Wagner auf solche Weise in Szene setzen können, und man kann sich leicht im selben Sinne als Hörer seiner Musik unterwerfen. Sagt man aber weiter nichts als dies, dann wäre Wagners Position in der Geschichte der Moderne nur die einer von der Moderne selbst ermöglichten und auch motivierten Gegenposition zu ihr. Um darauf nicht eingegrenzt zu bleiben, soll nun noch einmal – und weiterführend – auf die andere Variante der Ausgestaltung dessen, was Drama heißt, eingegangen werden, von der zunächst zu sagen war, daß sie in Wagners Werk auf überraschende, dann aber doch verständliche Weise aus der Konzeption des Gesamtkunstwerks ausgegliedert worden ist: Das Drama als der Cursus einer Person durch die Stadien und die Konflikte ihres Lebensganges.

IV.

Daß zu dem in seine Lebensführung und somit in seine Spontaneität freigesetzten Subjekt ein Lebensgang gehört, der sich nicht (wie etwa die biologischen Lebensstadien) vorab auf eine bestimmte Stadienfolge festlegen läßt, kann man sich mit der folgenden Überlegung klarmachen: Das freigesetzte Subjekt ist nicht mit einer Weltinterpretation ausgestattet, mit der zusammen es hervortritt. Es muß sie sich selbst gewinnen. Insbesondere fehlt ihm ein Verstehen seiner selbst, insofern es Glied eines Weltzusammenhanges ist, über den es nicht immer noch weiter hinausdenken müßte und in Beziehung auf den es seinem eigenen Leben und spontanen Sich-Besinnen einen Ort zu bestimmen vermag. Der Mensch bedarf aber einer solchen Bestimmung seiner "Stellung im Kosmos", wie man sehr vereinfachtend sagen mag. Obgleich er nämlich sein Leben aus sich selbst heraus zu führen hat, ist er in eben diese seine Subjektstellung nicht auch noch aus sich selbst heraus gelangt und niemals allein aus ihr heraus seiner selbst sicher. Darum bedrängen ihn Zweifel, wie er sich zu begreifen hat. Er kann diese Zweifel wieder von sich wegdrängen. Doch wird er keine definitive und keine ungefährdete Stabilität in seiner Lebensführung gewinnen können, wenn das Gewicht der Zweifel nicht erfahren und wenn er dann nicht aus ihnen heraus zu einer stabilen Selbstbeschreibung gekommen ist,in die er sein sich selbst bestimmendes Leben einbringen kann.

Die Selbstbeschreibungen, die für ihn zur Erwägung anstehen, können ihm aber nun auch nicht wie in einem Musterbuch vorliegen; und schon gar nicht könnte er aus ihnen eine Art von Auswahl treffen, an die er sich dann nur halten müßte. Das liefe auf eine Verabschiedung der Zweifel durch eine dezisionistische Hilfsmaßnahme hinaus, die keinen Bestand haben würde. Die Vergewisserung unter Bedingungen der Ungewißheit, die dem freigesetzten Subjekt abverlangt ist, kann darum nur in der Weise geschehen, daß ein Weltverstehen in das Leben selbst wirklich eingreift, so daß eine Erfahrung mit ihm gemacht werden und ein Resumee aus dieser Erfahrung heraus gezogen werden kann. Es ist aber weiterhin auch nicht möglich, sich in den Phasen dieses erkundenden Lebens in den ruhigen Wassern moderater Erkundungsrisiken zu halten. Denn die Bedingungen, unter denen die Aufgabe der Vergewisserung zu übernehmen ist, sind so beschaffen, daß notwendigerweise Extreme von Möglichkeiten der Selbstinterpretation in den Horizont der Zweifel und damit der Erprobung innerhalb der Erfahrung des gelebten Lebens kommen. Der moderne Mensch ist darum immer auch der Möglichkeit ausgesetzt, sein ihm überantwortetes Leben als ortlos befinden zu müssen, als ohne einen Anhalt, der ihm eine Bewandtnis gibt, die über die Unabwendbarkeit der Tatsache hinausgeht, daß es eben nun einmal geführt werden muß. Jede Selbstbeschreibung aber, die nicht in diesem bloßen "daß" aufgeht und die sich ihm doch in einem Erfahrungsgang bewährt, kann zuletzt nur in einer Vergewisserung angenommen sein, die sie dem Selbstdementi entzieht – so daß also in sie immer auch dies eingeht, ein bewährer Gegenentwurf auch gegenüber den Erfahrungen zu sein, welche das Dementi vor Ort, Anhalt und Bewandtnis des Lebens stützen könnten.

Diese wenigen Bemerkungen können schon deutlich machen, warum der Roman als moderne Literaturgattung par excellence anzusehen ist – der Roman, der in dem profunden Sinne immer Bildungsroman ist, als er seit Diderot und Sterne den Gang der Selbstvergewisserung seines "Helden" und nicht nur die Lebensumstände zum Thema hat, unter denen er diesen Gang zu vollziehen hatte. Die Philosophen von Rousseau bis zu Hegel und Kierkegaard haben mit ihren Stadienlehren des bewußten Lebens und ihren Theorien von der Stufenfolge des Bewußtseins dieselbe Problemlage zu einem Grundproblem der Philosophie werden lassen.

Ein Dichter wie Hölderlin fand allerdings, daß auch in diesen erzählenden und in der philosophisch-raisonnierenden Erschließungen der Grundsituation und des Prozesses der Subjektivität unabwendbar ein Defizit gelegen sei: Die Dynamik, der der Mensch in seinem Lebensgang unterliegt, könne in den Medien von Literatur und Philosophie, die immer auch das neutralisieren müssen, was in ihnen erschlossen wird, nicht wirklich nachvollzogen und somit dem Menschen auch nicht in seinem ganzen Gewicht vergegenwärtigt und vorgebildet werden. In die Erfahrungen, die Selbstbeschreibungen wie die von Selbstdementi und affirmierender Selbstdeutung fundieren und vergewissert sein lassen, gehen Befindlichkeiten ein, die, wenn sie überhaupt zu vergegenwärtigen sind, eines anderen Mediums bedürfen. Das Korrelat dieser Befindlichkeiten nennt Hölderlin Töne. Und so ist es denn auch eine Form von Gedicht, das sich seiner Verwandtschaft mit der musikalischen Komposition bewußt ist, von dem sich Hölderlin die Vergegenwärtigung von Verlauf und Geschick des bewußten Lebens versprochen hat.

Wir sehen nun, daß sich in diesem Kontext die symphonische Form und insbesondere die Symphonik Beethovens auf eine Weise eingliedern läßt, die ihr einen Ort in der Entfaltung des modernen Bewußtseins bestimmt: Als ein Verlauf durch Konflikte, der kraft des musikalischen Mediums und kraft der alles versammelnden Auflösung, auf die er hinführt, dem gesamten Verlauf seinen Ort zuweist und ein Resumee über ihn ermöglicht. Diese symphonische Form kann aber darum wohl ein Gesamtkunstwerk genannt wrden – nicht im Sinn des Bühnenfestspiels, aber in dem für das Programm des Bühnenfestspiels bereits vorausgesetzten Sinn: Als vollkommene Mitteilung dessen, was das Menschenleben ausmacht, worin es sich vollendet, aber auch, aus was es begründet ist.

Aber Wagner hat in seine Konzeption des Gesamtkunstwerks gerade diese Dimension des menschlichen Lebens nicht einbezogen, wie immer sie sich in seinen wirklich ausgeführten Werken dann doch auch geltend machte und geltend machen mußte. Wenn es denn also wahr ist, daß der Mensch als Subjekt in der Moderne geradezu von ihr her begriffen werden muß, dann müßte nun gesagt werden: In Wagners Konzeption des Gesamtkunstwerks ist eine wesentliche Bedingung dafür eliminiert, die doch zuerst erfüllt sein müßte, wenn ein Gesamtkunstwerk sollte wirklich werden können, in dem sich die Intentionen des Programms erfüllen, die auf die Vergegenwärtigung des Menschenlebens in der aktualen Erfahrung der Vereinigung im Feste gingen.

Damit haben unsere Überlegungen eine Zuspitzung erreicht, die sie aber zugleich zu einer Peripetie und zu einem letzten neuen Ansatz führen soll.

V.

Die Schlußfolgerung, derzufolge die Erfindung des Programms vom Gesamtkunstwerk so formuliert ist, daß sie die Erfüllung dieses Programms innerhalb der Bewußtseins- und Problemlage der Moderne ausschließt, ist nur scheinbar paradox. Man könnte aus ihr nämlich wiederum weiter folgern, daß das Programm wohl wirklich Züge enthält, die zwar in der Moderne motiviert sind, die aber dennoch zum Ausbruch aus ihre aufrufen. Das wahre Gesamtkunstwerk, wenn auch ohne seine Überhöhung zum Festspiel, sei aber schon vorher, nämlich von Beethoven, verwirklicht gewesen. Und es sei die Bahn dafür offen geblieben, es in verwandelter Gestalt neuerlich wirklich werden zu lassen.

In Wahrheit dachte und arbeitete Wagner aber während einer Periode der Moderne, in der jegliches Gesamtkunstwerk bereits obsolet zu werden begann – also auch ein Gesamtkunstwerk im Sinne der ersten Komponente von Wagners Programm, die von ihm die adäquate und die vollständige Vergegenwärtigung des Menschenwesens und -lebens erwartete. Eine solche Vergegenwärtigung im Kunstwerk ist aber unmöglich geworden. Die Gründe dafür sind in einem allgemeinen Umriss bereits bei der in der vorausgehenden Erinnerung an Hegel vorgebracht worden. Im Anschluß an das moderne Prinzip der in ihrer Selbstvergewisserung auf sich selbst gestellten Spontaneität ergeben sich aber zwei weitere Gründe. Auf sie soll nun in Thesen, die nur ganz knapp erläutert werden können, eingegangen werden.

(1.) Das freigesetzte Subjekt, das sich seiner selbst vergewissern muß, steht damit in einer Distanz zu sich. Es ist von Beginn an mit der Möglichkeit des Selbstdementis vertraut. Das Wissen von dieser Möglichkeit führt dann auch die weitere Möglichkeit herauf, den Gang der eigenen Selbstverständigung als einen Prozeß zu erfahren, dem das Subjekt aus einem ihm vorausliegenden Grunde unterworfen ist. Von daher kann es sich in die Erkundung dieses Grundgeschehens einlassen. Und es kann in Beziehung auf die Kunst die Erwartung hegen, daß sie ihm mit ihren Mitteln dies Geschehen erschließt, welches die Subjekte übergreift und einbegreift. Dieser Impuls ist noch bis in unsere Zeit von Bedeutung geblieben. – so im Werk von Samuel Beckett, der meinte, man müsse die Architekturen der Sprache aufbrechen, um so herauskommen zu lassen, was hinter ihnen lauert – was auch immer es sei.

Man kann ‘die Natur’ im natürlichen Fühlen des Menschen oder den anonymen ‘Urwillen’ jenseits aller Ideen in die Motivationen des Menschen sich manifestieren sehen. Beide Gedanken können gleichermaßen eine Kompositionsart begünstigen und bestätigen, die nicht mehr darauf ausgeht, die architektonischen Verlaufsformen und Kontraste herauszuheben, die sie vielmehr einbezieht in ein gleitendes Gewebe unabsehbar sich modifizierender Klänge. Zunächst hatte Wagner zwar, wie wir sahen, der neu gewonnenen Fülle des Orchesterklanges das „Meer der Gefühle" zugeordnet, womit dieser gleitende Klang einfach nur auf eine Grundschicht der menschlichen Sensibilität und Emotionalität zurückbezogen scheint. Doch ist auch ein Grundgeschehen, das Grund des menschlichen Lebensvollzugs ist und das deshalb auch nicht als ein Geschehen in und zwischen den Menschen allein zu verstehen ist, auch nur dann für sie wirklich und eindringlich sein, wenn es in ihrem Wissen von sich und also in ihrer Erfahrungsart präsent ist - und das umso mehr, wenn es von der Musik vergegenwärtigt wird. Von ihr wird es vergegenwärtigt als ein seinem eigenen Bestimmen und Wollen entzogenes und ihm vorausgehendes Gleiten, in dessen Fülle er selbst aufkommt, das ihn, bergend oder zerstörend, einbegreift und das in einer bewegten Ruhe begründet ist, die dieses Hinaussein über den agierenden und ordnenden Menschen in der Weise, in der die Musik erklingt, jederzeit gegenwärtig hält. Als „Meer der Gefühle" ist es gerade dann, wenn man Wagners Musik im Sinn hat, nicht angemessen bezeichnet. Denn deren ‘Gewebe’ führt über die Organisation der Motive stetig auch eine Beziehung zu sich selbst mit sich und ist in ihr seiner selbst inne. Ein solches in die musikalischen Erfahrung eingebildetes Wissen ist zwar etwas anderes als eine Reflexion auf die Handlung des Musikdramas. Die wissende Erfahrung macht vielmehr selbst mit aus, was diese Handlung in ihrer Tiefenschicht selbst allererst konstituiert. Aber damit entfaltet sich dies Geschehen eben auch in einem mit einem Wissen von sich, das durch den Ausdruck ‘Gefühl’ durchaus nicht zu fassen ist.

Nun sind aber Kunstwerke, die nach diesem Konzept gebildet sind, trotz ihrer Konzentration in den Grund des Prozesses der Subjektivität in Wahrheit auch nichts anderes als Partialkunstwerke. Denn sie blenden Züge ab, die dem Menschen gleichfalls wesentlich sind - insbesondere den Verständigungsgang eines Lebens, um statt dessen etwas, was für es wohl von alles durchherrschender Bedeutung ist, nämlich das Grundgeschehen, in dem dies Leben aufkommt, als solches herausheben zu können.

(2.) Wir haben gesehen daß schon Hölderlin von der Frage bedrängt war, in welchem Medium eine adäquate Vergegenwärtigung von Grund und Gang des menschlichen Lebens überhaupt möglich werden möchte. Er wurde von ihr zu den vollkommensten modernen Gedichten geführt, die unangesehen ihrer kleinen Form Gesamtkunstwerke genannt zu werden verdienen. Dennoch hat er nicht davon abgelassen, sie über diese ihre Form weiter hinaustreiben zu wollen - wohl deshalb, weil er die Tiefe der in diese Form eingebundenen Konflikte und der Grenzerfahrungen, die aus ihnen hervorgehen, noch nicht angemessen vergegenwärtigt fand.

In der weiteren Entfaltung der Moderne ist dann die Einsicht auch innerhalb der Kunstpraxis zu immer größerer Klarheit gekommen, daß eine adäquate Vergegenwärtigung des ganzen Menschenlebens in Kunstgestalt geradezu unmöglich ist. Den Grund dafür kann man mit Beziehung auf die Distanz benennen, von der schon die Rede war und die von Beginn an in die Spontaneität des freigesetzten Lebens einbegriffen ist. Indem das Subjekt nach dem ihn untergründig bewegenden Geschehen fragt, wird diese Distanz, sozusagen, sogar verdoppelt. Aber auch der gesamte Lebensgang des Menschen, der dabei in den Hintergrund des Gestaltungsinteresses gerückt wird, ist ein Distanzverlauf, und zwar in ständigem Wandel. Wer die Erschütterung dessen vergegenwärtigen will, der der Nichtigkeit seines Lebens in ganzem Ernst inne wird, kann nicht im Zuge des gleichen Ansatzes das Glück dessen vergegenwärtigen, der sich in seiner Liebe lebendig und geborgen weiß. Denn dazu müßten die in beiden Erfahrungen voneinander grundverschiedenen Weisen von Selbstdistanz gleichfalls vergegenwärtigt und mitvollzogen sein. Um aber auch nur approximativ jede einzelne solcher Erfahrungen, und zwar zusammen mit dem Weltverstehen, das in sie eingebildet ist, zu vergegenwärtigen, müßte ein Kunstwerk einen eigenen Ansatz finden, der es dann aber auch als ganzes bestimmen wird. Kein Kunstwerk ist deshalb dazu geeignet, die Differenz zwischen einander entgegengesetzten Weisen von Selbstdistanz gänzlich unverkürzt in sich eingehen zu lassen.

Daß es so ist und daß davon gewußt wird, zeigt sich auch daran, daß sogar Beethovens Symphonien - die Paradigmen eines Gesamtkunstwerks im erläuterten Sinn - von dem in der entfalteten Moderne Erfahrenen mit einem Vorbehalt gehört werden müssen. Trotz ihrer Tiefe in der Ausgestaltung von Konflikten setzen sie sich mit ihrem kraftvollen Zug auf die alles versammelnde Synthesis hin darüber hinweg, daß der Lebensgang ein Gang durch sich wandelnde Distanzen ist. Nur in der Erinnerung, aber in keiner Vergegenwärtigung in einer Kunstgestalt, können die Lebensphasen, die in ihnen erfahrenen Modifikationen der Selbstdistanz eingeschlossen, zu einem Resumee zusammengeführt werden. Die Schwierigkeiten, welche die Komponisten mit der Form der Symphonie nach Beethoven hatten, ließen sich wohl auch unter diesem Gesichtspunkt erklären.

So kann also auch hier die Konklusion wieder nur die sein, daß moderne Kunstwerke - sofern sie noch anderes sind als Erkundungen von Möglichkeiten der Formgebung und deren Meisterung - nicht als Gesamtkunstwerk, sondern nur als Partialkustwerk zu einem überzeugenden Gelingen geführt werden können.

Wohl können Kunstwerke Weltbildungen vergegenwärtigen; aber in sie muß sich dann das Subjekt mit seinem Lebensgang selbst noch einbringen, um so die Anmutung, die von dem Werk ausgeht, etwa für sich selbst auch zu bewähren. Kunstwerke können wesentliche Erfahrungen und Gestimmtheiten des Lebens in reiner Gestalt vergegenwärtigen und sie dabei zugleich in einen Welthorizont hineinstellen. Aber dann bleibt es dem Subjekt immer noch überlassen, sie zu dem ins Verhältnis zu bringen, was in jedem solchen Werk notwendig auch ausgegrenzt geblieben ist.

Die Subjektivität kann nur aus ihr selbst heraus über sich verständigt werden - wie sehr sie dazu auch der Anstöße und Vorbildungen für ihre Selbstvergewisserung bedarf. Weil es ihrer aber bedarf, ist das Leben für die Werke der Kunst gerade auch dann aufgeschlossen, wenn diese Werke Partialkunstwerke sind.

Vollkommen gelingen können Gesamtkunstwerke also eigentlich niemals, wenn damit gemeint sein soll, dass sie sich in ihrer Vermittlungsleistung über alle Eingrenzungen erheben. Nach ihrer einen, der Komponente des Volksfestes, bleiben sie an einzelne historische Momente gebunden, die in der entfalteten Moderne nicht mehr erwartet werden können. Mit ihrer anderen Komponente, derzufolge sie den ganzen Menschen rein vergegenwärtigen sollen, treffen sie auf einen Grundvorbehalt, der aus der in das Leben eingegangenen Selbstdistanz aufkommt. Kraft dieser Distanz ist zwar keineswegs die Möglichkeit eines ganz gewordenen Lebens zu dementieren. Sie schließt es aber aus, daß dies Leben in der Erfahrung eines Kunstwerks oder gar in einem Festspiel als ganzes vergegenwärtigt werden kann.

So konnte also Wagner mit den Werken, in denen er das Programm des Gesamtkunstwerks realisieren wollte, diesem seinem Prograsmm gar nicht in Beziehung auf alle die Implikationen zugleich gerecht werden. Und wo seine Musik dem Grundgeschehen zugewandt ist, aus dem sich die Subjektivität zugleich mit allen ihren Konflikten herausbildet, da kann sie den Gang des Menschenlebens allenfalls berühren und nicht auch ihm eine andäquate Vergegenwärtigung zuteil werden lassen. Wo also eine Inszenierung überzeugt, die unter der Anleitung des Programms für ein Gesamtkunstwerk stand, da wird sich immer auch zeigen lassen, daß auch sie hinter dem ganzen Anspruch des Programms zurückbleiben mußte. Aber gerade damit könnte sie doch dem gerecht werden, was in dem Werk selbst wirklich zur Ausgestaltung gelangte. So kann man also zugespitzt, aber mit einem guten Rechtsgrund sagen, daß, was einer solchen Inszenierung zu gelingen vermochte, die Realisierung eines Gesamtkunstwerks als Partialkunstwerk gewesen ist. Welche Folgerungen für die Möglichkeiten einer Inszenierung ergeben sich aber, wenn man davon ausgeht, daß die Analysen, die gegeben wurden, im wesentlichen korrekt sind?

VI.

Von Folgerungen, die etwas ganz anderes als Ratschläge aus persönlichem Ermessen sind, kann dann die Rede sein, wenn man erneut die beiden Gründe erwägt, die dafür angegeben wurden, daß das Gesamtkunstwerk als Programm in seine Krise kam: Auf der einen Seite die Aufmerksamkeit auf ein Grund-Geschehen, von dem die Subjektivität sich hintergangen weiß und das sie als hineinwirkend in ihren Lebensgang erfährt, und auf der anderen Seite die vielfach modifizierte Weise von Selbstdistanz, wobei jede dieser Modifikationen zugleich jeweils auch eine Selbsterfahrung im Gang des Lebens mitbestimmt, so daß ihre Intensität und Fülle ohne diese Modifikation der Distanz weder zu durchleben noch nachzuvollziehen wäre.

Zum ersten ist zu sagen, dass Wagners Werk der Periode der Moderne angehört, in der es unabweisbar geworden war, sich in der Aufmerksamkeit auf ein solches Grundgeschehen zu halten. Seine Musik ist dort von historischer Bedeutung, wo sie in dessen Vergegenwärtigung überzeugt. Eine Inszenierung könnte darauf den ganzen Nachdruck legen. Sie würde dann von der Musik des Dramas her ihre Orientierung gewinnen. Kritiker wie Nietzsche waren zwar der Meinung, daß Wagners Musik sich nur gelegentlich und in beiläufigen Miniaturen für eine solche Orientierung wirklich eignen könnte. Ihre Kompositionsart, die von Dahlhaus charakterisiert wurde, läßt aber erwarten, daß ihr durchaus diese von aller Rhetorik abgewendete Gestalt weithin würde zu entlocken sein. Die weitere Folge davon wäre, daß die Mythologie des Textes zu unterlaufen und in Suspens zu bringen ist und daß so starr angelegte Charaktere wie etwa Siegfried vor einem ihnen selbst entzogenen Hintergrund enagiert und so zugleich in eine Art von Entwicklung versetzt werden müßten. Die Musik könnte dabei vom schweren Schicksalston und -tempo weggerückt erklingen - dem Impressionismus angenähert, der ebenso wie die Psychoanalyse und die Lehre und Literatur des Bewußtseinsstromes in derselben Epoche der Entfaltung der Moderne, der Wagner zugehört, ihren Ursprung hat. Eine solche Inszenierung würde wohl weiterhin als ein in sich einheitlicher Wurf realisiert werden müssen. Wir haben ja schon gesehen, daß ein Partialkunstwerk nicht etwa dadurch definiert werden kann, daß es Brüche ausweist oder daß es ein Arrangement von Fragmenten ist.

Achtet eine Inszenierung nun aber nicht auf das Grundgeschehen, sondern auf die Situationen, die sich in der jeweiligen Szene aufbauen, so ergeben sich andere Folgerungen. Diese Szenen sind nicht einfach nur Manifestationen des Grundgeschehens. Sie lassen sich auch als Stationen auffassen, in die der Lebensgang der Personen hineingezogen wird, und somit als charakteristisch für sie in ihrem Verhältnis zum eigenen Leben und zu der Welt, in der sie sich begreifen, sowie für die Wandlung in diesem Verhältnis. Wagners Ring zeichnet sich unter vielem anderen auch durch die große Vielfalt und die Diskrepanz in der Anlage seiner Szenen aus. Wagner hat sie gewiß von dem großen Zug des Grundgeschehens durchherrscht sein lassen wollen. Zugleich ist aber das Konzept dessen, was ein Gesamtkunstwerk hatte sein sollen, gar nicht dazu imstande, die Situationen, in die die Protagonisten gezogen werden, von jenem Geschehen her auszuloten - noch weniger also das Lebensgeschick, in dem die Personen diese vielgestaltigen Situationen zu durchleben haben - samt den Modifikationen in ihrem Selbstverhältnis, die sie notwendig nach sich ziehen. Eine Inszenierung kann sich aber auch auf diese Dimension konzentrieren und sie vertieft sich ausartikulieren lassen. Wagner selbst hatte ja als Komponist auch jeder dieser Situationen, die er als Poet zuvor entworfen hatte, in der musikalischen Durchführung gerecht zu werden. Die Musik ist es aber, die in dem, was das Drama ausmacht, die eigentlich führende Rolle hat.

Ich erinnere mich gern der ersten Ring-Inszenierung, die ich hören konnte - die in Berlin, die sich direkt von Wieland Wagners Bayreuther Ring herleitete. Wieland Wagner schrieb zu ihrer Erläuterung unter anderem, daß Wagner nur dann wirklich große Musik zu schreiben imstande war, wenn er von einem menschlichen Thema tief bewegt gewesen ist. Dabei hatte er offenbar die Schlußszene von ‘Die Walküre’ im Sinn. Aus einer solchen Beobachtung ließe sich die Erwartung herleiten, daß die Szenen - unangesehen der Konzeption, die sich alles vom Zug hin aufs Gesamtgeschehen versprach - auch und gerade von der Musik her Potentiale einer Individuierung aufweisen. In eindringlicher Realisierung auf der Bühne können sie sich ihrerseits von der Dynamik des Grundgeschehens emanzipieren, auf die allerdings doch immer auch wieder Bezug zu nehmen ist, wenn der Zug des Werkes auf ein Ganzes hin im Rahmen der Voraussetzungen der Moderne herausgearbeitet werden soll. Solche szenische Gestaltungen werden dann zu Miniaturen je eines Partialkunstwerks, die zu einem Ganzen zwar zusammentreten müssen, das als Ganzes aber der Last enthoben ist, unter dem Anspruch des Gesamtkunstwerks jegliches Geschehen auf der Bühne und im Orchester zu dominieren.

Daß in Stuttgart die vier Abende des Rings je einem anderen Regisseur überantwortet wurden, kann eine sehr gute Voraussetzung für das Gelingen einer solchen Produktion sein, in der die humane Substanz der Szenen und Situationen von dem alles beherrschenden Vorgriff auf den Gesamtverlauf abgekoppelt ist. Ein Erfolg ist damit natürlich nicht auch schon gesichert. Das ist um so weniger der Fall, als es viele andere Gründe gibt, die es schwierig machen zu verhindern, dass der Ring auf der Bühne unserer Zeit zumindest dahin tendiert, fremd oder gar befremdlich zu wirken. Die Aufhebung des kunstmythischen Anspruchs ist dafür eine wohl besonders offenkundige Bedingung. Aber die dazu schon seit den zwanziger Jahren nahegelegten Mittel - die Transposition der Ausstattung in diie Gegenwart und ihre sozialkritische oder psychologische Veralltäglichung sowie die ironisierende Wirkung, die sich damit verbinden kann, sind allzu leicht zu handhaben und eliminieren die Tiefendimension der Erfahrung, die nach den Worten des Enkels Wieland der Musik Wagners ihr größtes Gewicht zuwachsen ließen. Die Beschränkung auf diese Mittel allein kann deshalb auch Anlaß zu neuerlichem Befremden werden.

So stellt sich mir am Schluß die noch weitergehende Frage: Wie ließen sich etwa Züge aus den beiden von mir skizzierten Inszenierungsprogrammen so zusammenführen, daß ein modernes, zugleich in einer Epoche der Moderne zu positionierendes Kunstwerk realisiert wird? ein Gesamtkunstwerk könnte es nicht sein. Denn es würde von dem Grundgeschehen her, das in der Musik zum Ausdruck kommt, die Lebensbewegungen der Personen in den Szenen nur berühren, nicht begreifbar machen. Und es würde in der vertieften Durchgestaltung der Szenen doch nicht, wie Wagner es wollte, die vollkommenste Mitteilung über das erreichen, was das Menschenleben ausmacht. Aber mit einer solchen Inszenierung könnte sehr wohl versucht werden, die Momente, aus denen sich nach der historisch gewordenen Konzeption ein Gesamtkunstwerk hätte bilden müssen, wenigstens noch so weit in Beziehung zu einander zu halten, wie es einem Kunstwerk möglich ist, das im Bewußtsein der entfalteten Moderne ohne Vorbehalte eine Resonanz finden soll. Es müßte die Grenzen der Vergegenwärtigung selbst noch offenlegen und, über Brüche und über den Wechsel der Distanzen hinweg, doch eine Gesamtgestalt sichtbar und hörbar werden lassen. Es wäre eine wahrhaft große Herausforderung für einen großen Regisseur, einer derart schwierigen Zuordnung eine prägnante Realisierung zuteil werden zu lassen.

Copy-Right © 2000, Dieter Henrich - -

Camillo Schrimpf  Home . . . Last Update 2006, May 20 . . .